Die
USA erleben derzeit eine Rezession, die noch tiefer ist als die Große
Depression in den Dreißigerjahren. Das mag viele Leser überraschen.
Schließlich ist die US-Wirtschaft zuletzt um knapp fünf Prozent
gewachsen, während Deutschland bestenfalls stagniert. Die
Arbeitslosenquote liegt bei 3,9 Prozent und ist damit so tief wie in 50
Jahren nicht. Sogar die jüngsten Inflationsdaten zeigen einen positiven
Trend. Nachdem die Teuerungsrate in der ersten Jahreshälfte noch immer
über fünf Prozent gelegen hatte, ist sie im Oktober auf drei Prozent
zurückgegangen.
Doch
vor allem die Gen Z, also die nach 1997 Geborenen, fühlen sich in einer
tiefen Wirtschaftskrise. Auf TikTok sammeln Videos die Zustimmung
Hunderttausender, in denen das Leben in den Dreißigerjahren als weit
besser beschrieben wird als ihre aktuelle Situation. "Wir
alle wissen, wie schwer es ist, in diesem kaputten Land über die Runden
zu kommen", klagt Isabel Brown in einem Video, das 196.000 Likes bekam.
Ein anderer TikToker erklärt: "Wir leben in einer Silent Depression."
In einer "stillen Depression" deshalb, weil angeblich Politiker wie Präsident Biden und die Medien die Leiden der jungen Generation totschweigen. Zum Vergleich: Während der Großen Depression war ein Viertel der Erwerbstätigen in den USA ohne Arbeit. Zwischen 1929 und 1933 brach die Wirtschaftsleistung um ein Drittel ein, Millionen verloren ihr Heim und lebten in sogenannten Hoovervilles, Slums, die so hießen, weil der damalige Präsident Herbert Hoover für die Krise verantwortlich gemacht wurde. Immerhin gab es keine Inflation, im Gegenteil: Die Preise fielen um 25 Prozent.
Für das Heer derjenigen, die auf die Armenspeisung der Suppenküchen angewiesen waren, mag das allerdings ein schwacher Trost gewesen sein. Wie kann es sein, dass junge Erwachsene diese Not mit ihrer eigenen Lage im Jahr 2023 vergleichen? Man könnte sich leicht über die ahistorische Jammerei auf hohem Niveau lustig machen. Doch es geht den TikTokern und ihren Fans dabei weniger um einen historischen Vergleich und einschlägige Statistiken, sondern um ihr Lebensgefühl. Und es ist in der Tat über die vergangenen Jahrzehnte schwieriger geworden, Meilensteine wie das eigene Heim und das eigene Auto zu erreichen.
Die Pandemie und die folgende Preisexplosion – in der Spitze erreichte die Teuerungsrate fast zehn Prozent – haben die wirtschaftliche Unsicherheit vor allem für die Generation verstärkt, die in diesen Zeiten erwachsen wurde. Sicher, die Durchschnittslöhne sind nominal um 16 Prozent gestiegen. Aber die Preise für Eigenheime sind um 32 Prozent gestiegen, und die monatlichen Hypothekenzahlungen für neue Käufer haben sich dank der Zinserhöhungen der Notenbank um fast 300 Prozent erhöht. Die durchschnittlichen Kosten für Neuwagen liegen jetzt bei weit über 48.000 Dollar – fast 6.000 Dollar mehr als vor zwei Jahren und etwa 10.000 Dollar mehr als im September 2020. Und wegen des schlechten Ausbaus des öffentlichen Nahverkehrs in weiten Teilen des Landes sind Amerikaner weiterhin auf ihr Auto angewiesen, um zum Job oder zum College zu kommen.
Das Weiße Haus begrüßte die jüngsten Inflationsdaten als Beweis dafür, dass Bidenomics funktioniere. Doch Verbraucher schauen nicht auf die Teuerungsrate, sondern auf die Preise, die sie im Laden oder an der Tankstelle bezahlen müssen. Und die sind spürbar höher als die Preise, die sie vor der Pandemie zahlten. Der durchschnittliche Benzinpreis belief sich 2019 auf 2,60 Dollar pro Gallone, also 70 Cent pro Liter. Im Oktober lag der Preis bei 3,70 Dollar, das entspricht einem Dollar pro Liter.
Auch das erklärt, warum in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup 60 Prozent der Befragten sagten, die Preissteigerungen bedeuteten "finanzielle Not" für sie. Und auch wenn die Löhne seit Februar schneller wachsen als die Inflation, fühlen sich die meisten Amerikaner immer noch ärmer als vor der Pandemie. Doch der Preisschock alleine erklärt nicht die geballte Frustration, die sich unter anderem in den TikTok-Videos Luft macht.
In den Kommentaren darunter findet sich ein Hinweis darauf – etwa bei den Fragen nach den Gewinnen, die die Unternehmen kassierten. Der Zorn der Gen Z rührt nur zum Teil von den aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen her, sondern er beruht auf Faktoren, die sich über die vergangenen 40 Jahre gesteigert haben: die hohe und zunehmende Ungleichheit im Land, verbunden mit größerer wirtschaftlicher Unsicherheit durch die stärkeren Einkommensschwankungen und einem reduzierten sozialen Netz für die Mehrheit der Haushalte. "Eine tief sitzende Wut darüber, dass die Wirtschaft 'manipuliert' ist, schwelte schon lange vor der Pandemie", glaubt etwa Betsey Stevenson, Professorin für Wirtschaft und Politik an der University of Michigan.
Tatsächlich hat der Wettbewerb in der US-amerikanischen Wirtschaft über die vergangenen 40 Jahre deutlich abgenommen und die Konzentration der Marktmacht der Konzerne gleichzeitig deutlich zugenommen. Laut einer Studie der Analysefirma S&P Global Market Intelligence vereinen in 91 der 157 untersuchten primären Wirtschaftszweige die fünf größten US-Unternehmen gemessen am Umsatz mindestens 80 Prozent der Gesamteinnahmen der Unternehmen in ihrem jeweiligen Wirtschaftszweig auf sich. Im Jahr 2000 war es laut den Analysten "nur" in 71 Wirtschaftszweigen der Fall gewesen.
Mit der Marktkonzentration steigt auch die Marktmacht der verbliebenen Anbieter, und zwar nicht nur, was die Preissetzung angeht, sondern auch die Vergütung der Arbeitnehmer. So hat der Anteil der Arbeitnehmer an den Unternehmenseinkommen seit Anfang der Nullerjahre von fast 85 Prozent auf 75 Prozent abgenommen. Entsprechend stieg der Anteil der Aktionäre und Eigentümer.
Die TikTok-Vergleiche mit der Großen Depression mögen zwar nicht den historischen Fakten entsprechen. Das Gefühl der tiefen wirtschaftlichen Ungerechtigkeit trifft durchaus zu und noch so viele "objektive" Statistiken und aufmunternde Behauptungen von Präsident Joe Bidens Wahlkampfteam werden es nicht widerlegen können. Das können nur grundlegende Reformen und eine Durchsetzung des Kartellrechts – was Biden durchaus propagiert. Doch selbst wenn er dabei erfolgreich ist, wird es Zeit brauchen. Für eine Wiederwahl Bidens im kommenden November dürfte es knapp werden.
Author: Christopher Garza
Last Updated: 1703716561
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